„Ich sehe was, was du nicht siehst!

Gerhard Gnauck in einem Café im Warschauer Stadtteil Saska Kępa. © Natalie Junghof

Korrespondent Gerhard Gnauck im Interview

Als Auslandskorrespondent in Polen Themen zu finden, die für deutsche Leser interessant sind, ist eine Herausforderung. Den richtigen Blick für interessante Inhalte hat Dr. Gerhard Gnauck. Er ist seit fünfzehn Jahren in Warschau und berichtet als Korrespondent für die Tageszeitung Die Welt.

Wie sieht Ihr Alltag als Korrespondent in Warschau aus?

Der Alltag ist weniger planbar als der eines Korrespondenten in Brüssel, Paris oder London. Viele Regeln und Abläufe sind noch nicht zur Routine geworden. In diesem Land gibt es mehr Überraschungen. Ein aktuelles Beispiel ist das Ergebnis der Präsidentenwahlen, bei denen Andrzej Duda gewonnen hat. Die zuvor veröffentlichten Umfragedaten lagen eindeutig daneben, da diese Bronisław Komorowski als Sieger vorausgesagt haben. Das sind kleine Sensationen, die einen immer wieder etwas Neues entdecken lassen.

Inwiefern sind die Abläufe in Polen anders?

In Deutschland bekommt man als Journalist in Monatskalendern eine Vorschau der kommenden Pressetermine. In Polen erfährt man das nicht gebündelt. Deshalb muss man als Journalist sehr aktiv sein. Die schwierige Planbarkeit trifft zudem die deutschen Redaktionen. Ein Kollege, der von Warschau nach Brüssel gegangen ist, meinte, wenn in Warschau ein Minister zurücktritt, kann man das auch zwei Tage danach noch berichten. Tritt in Belgien ein Minister zurück, weiß die Zeitung das schon fünf Stunden vorher.

Entwickeln Sie Themen spontan?

Einerseits spontan, andererseits braucht man mehr Gespür und Mut für ungewöhnliche Themen. Diese Inhalte haben es in deutschen Redaktionen schwer, weil sie nicht über andere Kanäle ankommen. Denn das, was die Nachrichtenagenturen aus Polen berichten, ist auch sehr dürftig.

Wie überzeugen Sie Ihre Redaktion, alternative Themen zu veröffentlichen?

Ich musste mir ein Standing erarbeiten. Das Motto meiner Arbeit lautet: „Ich sehe was, was du nicht siehst!“. Wenn etwas interessant oder speziell ist, dass es berichtenswert erscheint, schlage ich es der Redaktion vor.

Warum haben Sie sich für Polen entschieden?

Die Welt hat mir angeboten, Korrespondent in Polen zu werden und da habe ich zugegriffen. Ich kann aber dazu sagen, dass meine Mutter Polin ist. Zudem habe ich mich im Studium und meiner Doktorarbeit intensiv mit Mittel- und Osteuropa beschäftigt. Da lag es auf der Hand, einen Beruf, der sich mit Deutschland und Polen auseinandersetzt, auszuüben.

Sie interviewen verschiedene Persönlichkeiten. Das sind Politiker, aber auch normale Bürger. Spüren Sie, dass es Vorurteile gibt, weil Sie Journalist eines deutschen Mediums sind?

Eigentlich immer weniger. Es gibt viel Respekt und Sympathie für Deutschland. Beide Länder verfolgen unterschiedliche Interessen in ihrer Berichterstattung und das ganz unabhängig von Stereotypen. Polen und Deutschland setzen unterschiedliche Schwerpunkte in der Energie-, Ost-, und Wirtschaftspolitik. Sie berichten zudem anders über den Umgang mit der Geschichte und die Minderheitenfragen. Mich interessieren inzwischen mehr die Interessen der Länder als die Stereotypen der Nachbarvölker.

Ist die polnische Sprache ein Hindernis in der journalistischen Arbeit?

Es ist immer ein großer Vorteil, die Landessprache zu können. Ich spreche neben Polnisch auch Russisch, da ich mich zudem mit der Ukraine, dem Baltikum und ein bisschen mit Russland beschäftige. Manche Feinheiten oder Subtexte kriegt man sicher nur schwer mit, wenn man eine Sprache nicht kann. Aber es gibt auch sehr gute Journalisten, die die Landessprache nicht oder nur ein bisschen können und andere Fähigkeiten haben. Wenn ein Journalist sich mit einer Fremdsprache sehr gut einarbeitet, dann kann er das dadurch wett machen.

Sie werden häufig als Gast in Talkshows eingeladen und zu deutsch-polnischen Themen befragt. Wie sehen Sie Ihre Rolle als deutsch-polnischer Experte?

Die deutsch-polnische Nachbarschaft ist viel dichter als es in den Medien und im allgemeinen Bewusstsein der Deutschen präsent ist. Deutsche Stimmen sind in polnischen Medien sehr gefragt. Gemessen am Bedarf gibt es jedoch sehr wenige Leute, die in den Medien beider Länder präsent sind. Als Journalist sollte man sich klar sein, dass man kein Botschafter des Heimatlandes ist, sondern ein Grenzgänger. Jemand, der beide Länder kennt. Jemand, der möglicherweise, wie in meinem Fall, an einer Universität Mittel- und Osteuropa analysiert hat und mit diesem Wissen die Region und die Europäische Union kritisch betrachtet.

Wie sind Ihre Zukunftspläne? Möchten Sie weiterhin in Polen bleiben?

Ich kann mir vorstellen, in einem anderen Land zu arbeiten. Manchmal frage ich mich, ob Polen nicht ein stabiles und damit schon langweiliges Land ist. Andererseits ist Warschau die Stadt mit der größten Präsenz von Auslandskorrespondenten zwischen Tallinn und Sofia. Viele Korrespondenten berichten gleichzeitig über mehrere Länder. Auch ich schaue ukrainisches und russisches Fernsehen, um die aktuelle Lage in verschiedenen Staaten zu beurteilen.

Wie ist Ihr persönliches Bild von Polen?

Ich lebe gerne hier! Meine Mutter hat den Krieg in Warschau überlebt. Mein polnischer Großvater war in der Heimatarmee und im Warschauer Aufstand. Das verbindet! Und was das neue Polen angeht: Warschau ist vielleicht nicht die schönste Stadt Polens, aber definitiv auch nicht die langweiligste. Polen hat landschaftlich und kulturell zwischen Meer und Bergen einiges zu bieten. Also lieber Leser, schau doch mal vorbei!

Deutscher Korrespondent in Warschau: Gerhard Gnauck. © Natalie Junghof
Deutscher Korrespondent in Warschau: Gerhard Gnauck. © Natalie Junghof


Über Gerhard Gnauck

Gerhard Gnauck wurde in Warschau geboren und ist in Mainz aufgewachsen. Er hat Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaft sowie Slawistik in Mainz und Berlin studiert. Gnauck hat als Journalist für Frankfurter Allgemeine Zeitung, Tagesspiegel, RIAS Berlin und polnische Medien gearbeitet. Seit 1999 ist er als Auslandskorrespondent in Warschau tätig.