Traditionelle Bräuche polnischer Familien in Ostwestfalen-Lippe
Die zweijährige Lina steht im Garten und hält einen Korb in den Händen. Sie holt ein gefärbtes Ei heraus. Der blaue Korb ist mit einer weißen Tischdecke, Buchsbaum und Weidenkätzchen geschmückt und enthält ein Stück Brot, ein Osterlamm aus Teig, zwei geräucherte Würste, Käse, Salz und Meerrettich. Immer wieder blickt Lina hinein und sagt „Ei!“. Was die Zweijährige nicht weiß: Bevor sie den Korb in den Händen halten konnte, verging eine ganze Woche. Von Palmsonntag bis Ostern reiste er durch Ostwestfalen, lernte polnische Traditionen kennen und die Katholische Mission Bielefeld-Paderborn.
Es ist Karsamstag, 9.30 Uhr. Auf dem Küchentisch von Familie Michoń liegen rot-braun gefärbte Eier. Die Schwestern Marie (11), Sophie (8) und Antonia (3) sitzen zusammen und bemalen die Eier mit Hasen, Blumen, Schäfchen und Wiesengrün. Ihre Mutter Aneta schöpft weitere Eier aus einem Topf mit kochendem Wasser und Zwiebelschalen. Sie legt die Eier in einen Korb und schnitzt mit dem Messer kleine Blüten in die Schalen. „Das Eierschalen-Kratzen habe ich als Kind von meinem Vater gelernt“, sagt Aneta. Sie stammt aus dem oberschlesischen Gleiwitz und ist 2002 mit ihrem Mann Krzysztof nach Bielefeld gezogen. Die Familie fühlt sich dennoch mit der Heimat verbunden. „Uns ist wichtig, dass unsere Kinder in beiden Kulturen aufwachsen“, sagt Krzysztof. Er ist im schlesischen Grottkau aufgewachsen und möchte, dass seine Töchter neben der polnischen Sprache auch die Traditionen kennenlernen. „Für sie ist es ein unbezahlbarer Schatz, beide Kulturen in sich zu tragen –und eine Erweiterung ihres Horizontes“, sagt der Theologie- und Französisch-Lehrer.
Einen wichtigen Stellenwert im familiären Alltag nimmt die Katholische Mission Bielefeld-Paderborn ein. Im Jahr 1955 gegründet, ermöglicht sie Messfeiern in polnischer Sprache, kirchliche Sakramente und Gruppentreffen. Jeden Sonntag besuchen etwa 1200 Gläubige die Heilige Messe in der St. Bonifatius-Kirche in Bielefeld und rund 300 Katholiken in der St. Elisabeth-Kirche in Paderborn. Seit ihrer Ankunft in Bielefeld besucht Familie Michoń polnische Gottesdienste. Marie und Sophie gehen zudem in die polnische Sonntagsschule und ihre Eltern Aneta und Krysztof leiten zwei Hauskreise an. „Die Gemeinschaft mit anderen polnischen Gläubigen ist ein Grund, warum ich mich hier zuhause fühle“, sagt Aneta, , die in Oppeln Umweltwissenschaften studiert hat. „Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, in der Sprache des eigenen Herzens zu beten und seinen Glauben in der Muttersprache zu leben“, sagt Pfarrer Dr. Krzysztof Romanowski. Er ist seit 2001 in Bielefeld tätig, Priester der Katholischen Mission Bielefeld-Paderborn, und begleitet die polnischstämmige Gemeinde. „Entscheidend ist, dass sich Menschen in einem anderen Land anpassen und dabei nicht ihre Wurzeln verlieren“, sagt Romanowski, der im Bistum Białystok zum Priester geweiht wurde und in Paderborn promoviert hat. Muttersprachliche Gottesdienste und Traditionen seien wichtig für die eigene Identität.
Familie Michoń setzt vor allem an Ostern und Weihnachten polnische Bräuche um.
„Die heilige Woche vor Ostern ist für uns eine besondere Zeit, da wir des Leidens und Sterbens Jesu am Kreuz sowie seiner Auferstehung gedenken“, sagt Aneta.
Mit Beginn der heiligen Woche – in der katholischen Kirche die Tage bis zur Auferstehung Jesu Christi – tragen polnische Gläubige am Palmsonntag sogenannte Osterpalmen in die Kirche, um sie vom Priester segnen zu lassen. Von Montag bis Mittwoch finden jeden Abend Exerzitien in polnischer Sprache statt. Am Gründonnerstag gedenken die Gläubigen durch die Fußwaschung des Priesters des letzten Abendmahles Jesu. Freitagmorgen beten sie den Kreuzweg, fasten mental und körperlich, indem sie auf Fleisch verzichten und der Ruhe Aufmerksamkeit schenken, abends verehren sie das Kreuz. „
Besonders viel Freude bereitet mir das Vorbereiten des Osterkorbes am Karsamstag“, sagt Marie. Sie füllt mit ihren Schwestern Osterkörbe mit sieben verschiedenen Speisen: Brot als Symbol des Leibes Christi, Eier als Zeichen des ewigen Lebens, Kuchen als Symbol für bestimmte Fähigkeiten und Vollkommenheit, Wursterzeugnisse als Garant für Gesundheit, Fruchtbarkeit und Wohlstand, Käse als Symbol für den Einklang zwischen Mensch und Natur, Salz als lebensspendendes Mineral sowie Meerrettich als Zeichen für Kraft und körperlicher Stärke. Um 12 Uhr fährt die Familie zur Osterkorb-Segnung in die Kirche und geht um 18 Uhr in die Heilige Messe.
„Ich mag die besondere Atmosphäre, wenn es in der Kirche dunkel ist und unzählige Kerzen brennen, die am Osterfeuer entzündet wurden“, sagt Aneta. Beim Sonntagsfrühstück werden die Speisen aus dem gesegneten Korb gegessen. Dabei brennt die Osterkerze als Symbol für die Auferstehung Jesu Christi in der Nacht zum Sonntag. Die Familie liest eine Bibelstelle aus dem Heiligen Evangelium, der Vater spricht ein Gebet. Dann teilen sie die Eier und sprechen Segenswünsche aus.
In einem anderen Bielefelder Wohnzimmer sitzt Lina mit ihrer Familie; auch sie teilt ein Ei aus dem polnischen Osterkorb. Er enthält Buchsbaum vom Palmsonntag, Eier vom Vormittag mit Familie Michoń, ein gebackenes Osterlamm von ihrer deutsch-polnischen Tante und weitere Speisen von der Osterkorb-Segnung in der St. Bonifatius-Kirche.