Mit dem Kulturzug nach Breslau

Fassadenkunst in den Breslauer Hinterhöfen. Das Neon-Museum ist sehenswert. © Eva Morlang Fassadenkunst in den Breslauer Hinterhöfen. Das Neon-Museum ist sehenswert. © Eva Morlang

„Kennen Sie Polen?“ – steht auf dem Fragebogen, der mir in die Hand gedrückt wird. Es ist ein Samstagmorgen Anfang September. Ich sitze im Kulturzug von Berlin nach Breslau – ein alter Regionalzug, so voll, dass nicht jeder einen Sitzplatz findet. Breslau ist dieses Jahr Europäische Kulturhauptstadt. Aus dem Anlass fährt in diesem Jahr ein Sonderzug ab Berlin in die niederschlesische Hauptstadt. Auch mein Bruder und ich begeben uns auf die Reise. Der Programmleiter des Zuges begrüßt uns über die Lautsprecher, erst auf Deutsch, dann übersetzt eine Frau ins Polnische. An den Wänden des Abteils hängen Zettel, auf denen stehen deutsche und polnische Fragen, wie: „Wieso gibt es in Breslau so viele Zwerge?“.

Der unbekannte Nachbar

Als ich mich dem Fragebogen widme, stelle ich beschämt fest, dass ich Polen quasi gar nicht kenne. Letztes Jahr war ich zum ersten Mal in Polen, in Krakau, und kann deshalb beantworten, wie alt die Universität von Krakau ist: Die Jagollonien Universität würde 1364 gegründet. Ich erinnere mich auch an den leckeren geräucherten Käse Oscypek, den man unter anderem mit Preiselbeermarmelade isst. Die restlichen Fragen zu Bauwerken, Flüssen und Durchschnittseinkommen kann ich nur erraten. Obwohl Polen ein Nachbarland von Deutschland ist und die Polen nach den Türken die zweitgrößte Gruppe der Migranten in Deutschland ausmachen, weiß ich erschreckend wenig über unsere Nachbarn. Ich habe mir auch nichts über Breslau durchgelesen. Ich weiß nur, dass es die Kulturhauptstadt 2016 ist und eine Studentenstadt sein soll.

Nach vier einhalb Stunden kommen wir am Hauptbahnhof Breslau an. Der Bahnhof wirkt frisch  renoviert und sauber. Gleich beschreibt uns am Infoschalter ein freundlicher Herr auf Englisch den Weg zu unserer Unterkunft.

Im Hostel schnappe ich mir an der Rezeption das bunt gemusterte Kulturhauptstadt-Programm. Zusammen mit meinem Bruder will ich so viel Kultur mitnehmen, wie es nur geht. Fünf Tage nehmen wir uns Zeit, um Breslau zu entdecken und zu erfahren, was eine Stadt aus dem verheißungsvollen Titel „Kulturhauptstadt“ macht.

Der Große Ring mit dem Rathaus in der Meetingpoint in Breslau. © Eva Morlang
Der Große Ring mit dem Rathaus in der Meetingpoint in Breslau. © Eva Morlang

Breslauer Zwerge als Protestsymbol

Die Zwerge, von denen wir im Kulturzug zum ersten Mal hörten, begegnen uns beim ersten Spaziergang in der Innenstadt. Vor einem Jazzclub steht ein kleiner Zwerg mit Posaune. Wie wir später erfahren, gibt es in der ganzen Stadt mehr als 200 dieser aus Bronze gegossenen Zwerge. 2001 tauchten die ersten Zwerge im Rahmen eines Projekts der Kunsthochschule auf. Sie erinnern an die politische Oppositionsbewegung „Orange Alternative“, die in den 80er Jahren mit avantgardistischen Aktionen gegen das kommunistische Regime demonstrierte. Unter anderem zogen sie Zwergenkostüme an und stellten einen gusseisernen „Papa Zwerg“ auf.

Die „Orangene Alternative“ spielt auch im Kulturhauptstadt-Jahr eine besondere Rolle. An ihrem ehemaligen Treffpunkt sitzt das Informationszentrum, die „Bar Barbara“. Ein Café und Veranstaltungsort, an dem sich die Kulturschaffenden treffen.

Kulinarische Weltreise in Breslaus Gastro-Szene

Jeden Abend gibt es viel Programm, sodass wir uns manchmal schwer entscheiden können. Wir laufen an so zahlreichen ausgefallenen Lokalen, Cafés und Kneipen vorbei, dass wir gut planen müssen, um auch alles ausprobieren zu können: Georgisches Streetfood, chinesische Dampfnudel und natürlich polnische Piroggen! In einer Kneipe bestellen wir jeweils einen Teller für umgerechnet zwei Euro, erwarten eine kleinen Snack-Portion und bekommen einen riesigen Teller mit den unglaublich leckeren Teigtaschen. Sie sehen etwas aus wie Maultaschen – nur schmecken noch besser.

Mehrmals laufen wir an einem kleinen Laden vorbei, vor dem egal zu welcher Tageszeit eine lange Schlange steht. Da müssen wir wohl auch mal hin. Wofür da alle Schlange stehen sind Pączki, auf Deutsch Kreppel, Krapfen oder Berliner, mit den unterschiedlichsten Füllungen. Der Bäcker verkauft nichts anderes. Sie backen von morgens bis abends frisch, die Füllungen reichen von Apfel über Erdbeere und Pflaume bis hin zu Nougat und Eierlikör. Zwei Mal gönnen wir uns die fettigen Teile. Unglaublich lecker – zurecht steht man dort Schlange!

Auf dem Kulturhauptstadt-Programm stand das Konzert eines japanischen Kinderchores im barocken Konzertsaal der Universität Breslau. © Eva Morlang
Auf dem Kulturhauptstadt-Programm stand das Konzert eines japanischen Kinderchores im barocken Konzertsaal der Universität Breslau. © Eva Morlang

Junge Menschen, junges Flair

Über das Stadtbild, die wunderschön restaurierten bunten Fassaden und die „raue Platte“ zu schreiben, wäre ein eigenes Kapitel. An den Ufern der Oder erstrecken sich Treppen, Grünstreifen und einladende Sitzlandschaften, die so neu aussehen, dass sie vermutlich gerade pünktlich zum Kulturhauptstadt-Jahr fertig geworden sind. Zwei Eindrücke, die sich durch unsere Erkundungsstreifzüge durchziehen: überall ist Leben, in der Innenstadt gibt es viel mehr Gastronomie als Einkaufsläden und fast alles ist gut besucht.

Wir sehen fast nur junge Menschen und fragen uns oft, wo die älteren Einwohner sind. Insgesamt hat Polen tatsächlich eine deutlich jüngere Bevölkerung als Deutschland. In Polen sind etwa 15 Prozent der Bevölkerung älter als 64, in Deutschland sind es mehr fast 21 Prozent. Breslau hat außerdem eine beträchtliche Anzahl von mehr als 12.000 Studierenden an über zwanzig Hochschulen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 635.800 Menschen macht das einen Anteil von rund einem Fünftel.

Wir fühlen uns sehr wohl in dieser studentischen Stadt, trinken leckeren Kaffee im Universitätsviertel und setzen uns an einem regnerischen Tag in das Café Vinyl, wo man Schallplatten kaufen und Schach spielen kann. Auch fahrradfreundlich ist die Stadt, was  sympathisch ist. An einem Tag leihen wir uns Räder aus und machen eine herrliche Tour entlang der Oder. Wir fahren durch die wunderschöne grüne und ruhige Landschaft, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Danach lassen wir uns am Ufer in der Strandbar ZaZoo in die Liegestühle fallen.

Der stillgelegte Bahnhof Świebodzki ist zehn Tage lang Bühne und Ausstellungsfläche zugleich. © Eva Morlang
Der stillgelegte Bahnhof Świebodzki ist zehn Tage lang Bühne und
Ausstellungsfläche zugleich. © Eva Morlang

Weltoffenheit in der Kulturszene

Wir hören im Laufe unserer Kulturtage ein Konzert mit japanischen Jugendchören, bestaunen im stillgelegten Bahnhof („Dworzec Świebodzki“) Tänzer aus Ägypten, der den rituellen Derwisch-Tanz eines islamischen Ordens vorführt.   Der Regisseur einer großen Performance, ebenfalls im Świebodzki-Bahnhof, kommt aus Deutschland. Breslau kommt uns international vor. Viele Ausstellungen, Konzerte und Theaterprojekte haben Migration, Flucht und Identität zum Thema gemacht. Sie rufen eine Warnung aus vor nationalistischen Bewegungen in ganz Europa. Auch Breslau kämpft gegen eine rechtsextreme Szene.

Die Schlagzeilen von antisemitischen Demonstrationen auf dem Rathausplatz im November 2015 lassen sich nicht in das Bild der Kulturhauptstadt integrieren. Wir bekommen in unseren fünf Tagen natürlich nur die schönen Seiten zu sehen, sitzen beispielsweise im Hof neben der Synagoge unter einem Kastanienbaum in einem entzückenden Café namens „Mleczarnia“ und fotografieren die tollen Muster auf unserem Capuccino-Milchschaum.

Auf der Heimreise fahren wir mit dem Bus nach Leipzig, ohne Kulturprogramm und Polen-Quiz. Hätte uns noch mal jemand Fragen gestellt, hätten wir sicher mehr beantworten können. Dafür nehmen wir viele neue Fragen und eine große Portion Neugierde auf noch mehr Polen mit.

Die Kulturzug fährt noch bis zum 8. Januar 2017 von Berlin oder Cottbus bis nach Breslau. Eine einfache Fahrt kostet 19 Euro. Weitere Informationen zu den Fahrzeiten stehen auf der VBB Website.

Do zobaczenia w Polsce!

Eva

Hört und lest noch mehr von Evas Erlebnissen! Auf ihrem Blog „lautschreiberei“ veröffentlicht die 24-jährige Studentin der Musikwissenschaft von der Universität Leipzig Print- und Audio-Beiträge.

 

 

„Post aus …“

In der Rubrik „Post aus …“ berichten junge Deutsche und Polen von ihren Erlebnissen im Nachbarland. Sie schreiben über ihre Erfahrungen beschreiben Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Nachbarländer.

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