Hoffnungsstern im Warschauer Ghetto

Deutsche Erstaufführung des Musicals „Imagine this“

Im dunklen Konzertsaal steht eine weiße Kerze. Sie erhellt den großen Raum. Um sie herum versammeln sich die Darsteller des Freien Musical-Ensembles Münster. Gemeinsam singen sie zum Gedenken an die Opfer des Holocausts das Lied „Unter dayne vayse shtern“. Das Publikum ist still. Die Musik berührt. Sie drückt aus, wie emotional dieser Abend und wie dramatisch dieses Musical sein wird, denn es geht um ein ernstes Thema: um das Leben und Sterben im Warschauer Ghetto.

 

"Stell dir vor": Menschen im Warschauer Ghetto träumen von besseren Zeiten in Freiheit. © Natalie Junghof
“Stell dir vor”: Menschen im Warschauer Ghetto träumen von besseren Zeiten in Freiheit. © Natalie Junghof

Liebe und Leid im Warschauer Ghetto

1942 werden Tausende Juden von deutschen Nationalsozialisten ins Warschauer Ghetto deportiert. Auch Familie Warshowsky gehört dazu. Daniel Warshowsky (Christoph Bürgstein) ist leidenschaftlicher Schauspieler und seine Familie und Freunde gehören einer Theatergruppe an. Um den Menschen Hoffnung zu schenken und sie von den täglichen Gräueltaten abzulenken, plant Warshowsky das Theaterstück „Masada“. Das hebräische Wort „Masada“, das auf Deutsch „Fels“ bedeutet, handelt von der Belagerung der Juden durch die Römer um 70 n. Chr. Es zeigt dabei Parallelen zur Juden-Verfolgung in Warschau auf. Warshowsky möchte durch das Theaterstück Widerstand gegen die Nazis und ihre antisemitische Ideologie leisten und baut zahlreiche Dialoge ein, die auch Juden und Nazis im Warschauer Ghetto führen könnten. Seine Tochter Rebecca (Sarah Hartmann) ist von der Idee zunächst nicht begeistert, macht dennoch beim Theaterstück mit. Sie verliebt sich während der Proben in den Widerstandskämpfer Adam (Sönke Westrup). Eine Romanze in Zeiten des Krieges beginnt.

 

Daniel Warshowsky (Christoph Bürgstein, mitte) probt mit seiner Theatergruppe das Stück "Masada" ein. © Natalie Junghof
Daniel Warshowsky (Christoph Bürgstein, mitte) probt mit seiner Theatergruppe das Stück “Masada” ein. © Natalie Junghof

Träume von besseren Zeiten

Immer wieder ertönt das Lied „Stell es dir vor“ („Imagine this“), um die Menschen im Ghetto träumen zu lassen und dadurch Zuversicht zu geben. Rebecca zweifelt an ihrer Vorstellungskraft: „Wenn man zwei Jahre keine Blume gesehen hat – wovon soll man da träumen?“. Die Theatergruppe schwelgt in Erinnerungen: „Ich träume von einem heißen Bad“ und „Ich von einer Zigarette“. Daniel ermutigt alle weiterzumachen: „Auf dieser Bühne bedeutet tanzen – frei zu sein, singen frei zu sein!“. Seiner Meinung nach könne der Glaube Berge versetzen.

In der Theateraufführung "Masada" kämpfen Römer gegen Juden. © Natalie Junghof
In der Theateraufführung “Masada” kämpfen Römer gegen Juden. © Natalie Junghof

Angst und Schrecken im Publikum

Das Theaterstück stößt beim Publikum auf große Begeisterung. Bis zu dem Moment als vier SS-Männer den Saal stürmen. Der SS-Hauptsturmführer Blick (Melvin Schulz-Menningmann) schreit das Publikum an und droht einen bei der kleinsten Bewegung zu erschießen. Blick bietet der Theatergruppe eine Ausreise in die Schweiz an, wenn sie das Theaterstück frühzeitig beenden. Darauf lassen sich die Protagonisten nicht ein. Die Nazis können von der Botschaft des Theaterstücks nicht überzeugt werden. Wieder beginnt das Bangen, ums eigene Leben und die Deportation ins Vernichtungslager Treblinka…

Die Theatergruppe wird im Musical von den SS-Männern festgenommen. Sie müssen ihre Kostüme ablegen und die Hände hochnehmen. © Natalie Junghof
Die Theatergruppe wird im Musical von den SS-Männern festgenommen. Sie müssen ihre Kostüme ablegen und die Hände hochnehmen. © Natalie Junghof

Professionelle Umsetzung

Ein 46-köpfiges Orchester begleitet die 70 Darsteller auf der Bühne. Das Orchester sitzt vor dem Bühnenbild und spielt Werke des amerikanisch-israelischen Komponisten Shuki Levy. Im Wechselbad der Gefühle ertönen stürmisch-laute und melancholisch-ruhige Lieder. Dabei spüren die Zuschauer zahlreiche Emotionen, wie Angst, Erschütterung, Hoffnung und Liebe. Unter der Gesamtleitung von Ingo Budweg spielen sie über drei Stunden. Alle Texte wurden im Vorfeld von Budweg aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Die professionelle Umsetzung des Orchesters und die schauspielerische Leistung der Protagonisten sind dafür, dass sie keine professionellen Musiker und Schauspieler sind, erstaunlich gut.

Ein besonderes Musical

Vor dem Musical kam bei vielen Zuschauern die Frage auf, wie dieses Thema in einem Musical aufbereitet werden soll, ohne die Ernsthaftigkeit zu verlieren. Das Ensemble zeigt, dass es gelingen kann. „Es kommt nicht auf die Musikgattung an, sondern wie man mit diesem Thema umgeht“, sagt Dirigent und Regisseur Ingo Budweg. „Dieses Musical will lebensbejahend sein und das mit allen Facetten, die das Leben zu bieten hat. Es ist traurig, witzig, düster, überraschend, grausam, lebendig und vor allem berührend – so wie das Leben selbst“, sagt der Oberarzt der Unfall-, Hand- und orthopädischen Chirurgie des Herz-Jesu-Krankenhauses in Münster-Hiltrup. “So schwer und grausam das Leben im Warschauer Ghetto war – es war Leben, das man versucht hat zu gestalten und erträglich zu machen. Es gab neben dem Elend Kultur, Freundschaft, Liebe und nicht zuletzt auch Hoffnung auf bessere Zeiten”, sagt Budweg. Es gehe dabei nicht um eine weitere Beleuchtung des Holocausts, sondern um die Geschichten der Menschen, die im Warschauer Ghetto gelebt haben.

Ehrengast Komponist Shuki Levy

Der amerikanisch-israelische Komponist Shuki Levy sitzt mitten im Publikum. Gemeinsam mit einer zehnköpfigen Delegation aus Israel schaut er sich die Aufführung an. Sichtlich gerührt steht er nach der Aufführung auf der Bühne und findet keine Worte für die Leistung des Ensembles. Das Musical soll in weiteren Theatern, wie im kommenden Jahr am israelischen Nationaltheaters in Tel Aviv, aufgeführt werden.

 

Minutenlanger Applaus: Das Publikum ehrt das Freie Musical-Ensemble mit Standing Ovations. Komponist Shuki Levy (dritter von rechts) hält seine Hand am Herzen. Canan Toksoy und Ingo Budweg (rechts) sind gerührt vom Beifall. © Natalie Junghof
Minutenlanger Applaus: Das Publikum ehrt das Freie Musical-Ensemble mit Standing Ovations. Komponist Shuki Levy (dritter von rechts) hält seine Hand am Herzen. Canan Toksoy und Ingo Budweg (rechts) sind gerührt vom Beifall. © Natalie Junghof

Aktualität des Themas Fremdenfeindlichkeit

Die Vorbereitungen für „Imagine this“ begannen im Frühjahr letzten Jahres. Die 26-jährige Violistin Jessica Oertel  kann sich noch gut an die Proben erinnern: „Das Thema ist nicht einfach für ein Musical. Als Violistin setze ich mich mit den Noten, aber auch Texten auseinander. Das war bei einigen Kompositionen sehr emotional“. Jessica macht seit fünf Jahren beim Freien Musical-Ensemble mit. Sie hat polnische Wurzeln und als Jugendliche zahlreiche Bücher über den Holocaust gelesen. Besonders berührt haben sie die Bücher der Opfer, die zu bekannten Persönlichkeiten wurden, wie Edith Stein und Anne Frank. „Seit meiner Jugend beschäftige ich mich mit diesem Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte. Leider musste ich oft feststellen, dass Jugendliche in Deutschland zu wenig darüber wissen und nur geringes Interesse zeigen“, sagt die Doktorandin, die an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zum Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft promoviert. Sie möchte als Lehrerin am Gymnasium arbeiten und dieses Thema in ihrem Unterricht behandeln. „Dieses Thema ist immer aktuell und sollte in zahlreichen Fächern auf dem Unterrichtsplan stehen“, sagt die 26-Jährige. „Ich konnte mit einem Zeitzeugen sprechen und das hat mich sehr beeindruckt“, sagt Jessica. In ihrem Religionsunterricht möchte sie Zeitzeugen einladen und Texte von Holocaust-Opfern einbringen: „Das Musical hat mir erneut die Augen geöffnet und verdeutlicht, dass dieser Teil der Geschichte nicht nur für die junge Generation, sondern für alle Menschen wichtig ist. So etwas darf nie wieder passieren!“.