Zwischen den Zeiten

Vor 70 Jahren endete hier ein Stück Stadtgeschichte. Heute spielen Bands aus ganz Polen im Teatr Victoria. © Janina Rottmann

Die Wiederbelebung verloren geglaubter Orte in Oberschlesien

Von Natalie Junghof, Anne Kirschbaum und Janina Rottmann

Ob Zechen, Bergwerke oder Theater: Einst waren sie für die Menschen Oberschlesiens von großer Bedeutung. Dann wurden sie durch den Krieg zerstört oder gerieten in Vergessenheit. Heute richten engagierte Bürger diese leeren Bauten wieder her und nutzen sie auf neue Weise: für Wirtschaft, Lehre, und Kultur. Auf Spurensuche durch die Zeit berichten Natalie Junghof, Anne Kirschbaum und Janina Rottmann.

Als der Violinbogen über die Säge gleitet, ertönt ein Klang so hoch wie eine Sopranstimme. Unter dem hölzernen Dach der Ruine verstärkt er sich um ein Vielfaches – ein magischer Moment für alle Zuschauer, die gebannt der Jazzband „Mięśnie“ im Teatr Victoria in Gliwice lauschen. „Das Teatr Victoria ist ein Beispiel dafür, wie aus etwas Traurigem etwas Gutes werden kann“, sagt Dawid Smolorz, Stadtführer in Gliwice. Errichtet im Jahr 1890 beherbergt das Gebäude an der Aleja Przyjaźni über 50 Jahre lang eines der bekanntesten Schauspielhäuser der Region. Als die Rote Armee am 24. Januar 1945 Gliwice erreicht, stecken Soldaten auch das Stadttheater in Brand. Das Feuer zerstört die wertvolle Ausstattung. Für Kultur wird es unbrauchbar – das Dach morsch, seine Pracht zerstört, dunkel und deprimierend. Zwar gibt es immer wieder Pläne für eine Renovierung, doch bleibt es bis in die 80er Jahre vor allem eine Sport- oder Lagerhalle. Das ändert sich in den 90er Jahren. Die Gliwicer Bürgerin Eve Strzelczyk initiiert 1994 die Gründung der „Stiftung für den Wiederaufbau des Stadttheaters“. Schon zwei Jahre später feiert es Wiedereröffnung, behält jedoch die Spuren seiner Verwüstung. Die Ruine mit den Rußspuren an der Wand wird zur einzigartigen Sehenswürdigkeit. Die sphärische Akustik in dem hohen Raum macht es zu einer der interessantesten Bühnen der Gegenwart: Für Konzerte, Tanz, Theater, Musicals und Filme.

Das ehemalige Hauptgebäude des Bergwerks Gliwice ist heute ein Bildungs- und Innovationszentrum. © Janina Rottmann
Das ehemalige Hauptgebäude des Bergwerks Gliwice ist heute ein Bildungs- und Innovationszentrum. © Janina Rottmann

An einem anderen Ort in Gliwice tauschen sich täglich Menschen aus. Sie nutzen die Räume zwischen den roten Backsteinmauern des Komplexes „Nowe Gliwice“ für Konferenzen, Seminare oder zum Arbeiten. Das Besondere: „Nowe Gliwice“ ist keine Ansammlung pragmatischer Plattenbauten. Stattdessen befindet es sich in den Gebäuden des ehemaligen Bergwerks Gliwice. In einem der zahlreichen Seminarräume diskutieren unter anderem auch die Teilnehmer der deutsch-polnischen Journalistenakademie. Neben dem Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit, das die Veranstaltung organisiert, haben auch die Gliwicer Hochschule für Betriebswirtschaft und das Gründerzentrum der Agentur für Lokale Entwicklung ihren Sitz in dem Gebäude. Gleichzeitig arbeiten hier kleine und mittlere Unternehmen aus dem Bereich der innovativen Technologien. Für insgesamt 24 Mio. Euro sanierten Stadt und EU die alten Bauten. Damit belebten sie die 1999 geschlossene Grube wieder und sie wurde zum Bildungs- und Geschäftszentrum. Die Verwandlung des Ortes wird von den Gliwicern sehr geschätzt, meint Lokalhistoriker Dawid Smolorz: „Sie sind froh, dass die wunderschönen Gebäude nicht abgerissen wurden wie in vielen anderen oberschlesischen Städten. Die Stadtverwaltung hat eine große Verantwortung für das historische Erbe der Stadt gezeigt“. An die einstige Zeche erinnert heute eine mit Kohle gefüllte Lore. Sie trägt die Gedenktafel: „Dies ist die letzte gewonnene Tonne des Bergwerks Gliwice“.

Das Bergwerk Guido im benachbarten Zabrze zeigt als drittes Beispiel, dass die Oberschlesier verloren geglaubte Räume wiederbeleben. Im heutigen Bergwerksmuseum begrüßen sich die Mitarbeiter noch immer mit „Glück auf!“. Während bis zum Jahre 1928 Steinkohle abgebaut wurde, heißen die Bergwerkführer heute Besucher unter Tage willkommen. Ausgerüstet mit gelben Helmen und Taschenlampe fahren die Besucher im dunklen Förderkorb 320 Meter in die Tiefe. Dort liegen die tiefsten öffentlich zugänglichen Steinkohle-Sohlen Europas. Unten angekommen demonstriert Bergwerkführer Grzegorz Dziwisz der Gruppe, wie die Bergarbeiter einst Kohle gewannen – vom Abbau über die Zerteilung bis hin zum Transport. Er selbst arbeitete bis 1988 im Bergwerk in Ruda Śląska. Seit 2008 ist er Steinkohle-Experte in Zabrze. „Unser Bergwerk hat neben dem tiefsten Bergwerksmuseum Europas noch viel mehr zu bieten“, fügt er hinzu und macht auf vier unterirdische Kammern aufmerksam, in denen Theateraufführungen, Konzerte, aber auch Konferenzen, Banketts und private Feiern stattfinden.

Das Bergwerksmuseum Guido bietet einen besonderen Ort für Veranstaltungen aller Art. © Natalie Junghof
Das Bergwerksmuseum Guido bietet einen besonderen Ort für Veranstaltungen aller Art. © Natalie Junghof

Brautpaare können sich in der Heiligen-Barbara-Kapelle sogar das Ja-Wort geben. Viele Künstler genießen es, hier unten aufzutreten: „Die Bühne unter Tage ist einzigartig. Die Atmosphäre des Bergwerks, die Akkustik sowie die Stille, ohne Mobiltelefon-Empfang oder anderen störenden Faktoren“, erzählt Marcin Gaweł. Der in Schlesien geborene Schauspieler führte in Guido unter anderem das Theaterstück „Synek” auf. Bergwerkführer Dziwisz freut sich, dass Guido bei Besuchern und Künstlern so beliebt ist: „Dieses Bergwerk steht wie viele andere Orte Oberschlesiens für Geschichte und Gegenwart. Wir gedenken der Geschichte, feiern dabei aber gleichzeitig das Hier und Jetzt.”

Der Artikel ist während der 9. Deutsch-Polnischen Journalistenakademie 2014, organisiert vom Haus für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit, entstanden.